Dann spreche ich halt lauter…

Viele Menschen meinen, dass Schwerhörigkeit durch Lautstärke auszugleichen sei. Leider ist das nicht der Fall; LEIDER, denn das wäre so einfach. Dann könnte ich einfach laut Radio, Fernsehen, Podcasts oder Musik hören. Und in der Kommunikation mit Menschen würde es ausreichen, wenn mein Gegenüber etwas lauter spräche.

Die Realität ist eine andere. Schwerhörigkeit bedeutet, dass die Information, die über das Ohr zum Gehirn kommt, undeutlicher / ungenauer / verwaschener ist als bei Normal-Hörenden. Um zu verstehen, brauche ich alle Sinne und manchmal auch den sog. sechsten Sinn, denn ich ergänze Fehlendes durch Interpretation / Kombinieren / Raten. Auf die Mithilfe des Gegenübers bin ich fundamental angewiesen, und das heißt:

  • sehr langsames Sprechen
  • geduldiges Wiederholen
  • in anderen Worten Ausdrücken
  • ggf. sogar Aufschreiben einzelner Stichworte
  • striktes Zuwenden des Gesichtes (damit ich das Lippenbild zur Unterstützung sehen kann)
  • eine gute Beleuchtung
  • eine entspannte Gesprächsatmosphäre (bei Stress geht alles noch viel schlechter)
  • eine ruhige Umgebung.

Doch die Erfahrung zeigt: obwohl mein Gegenüber gern helfen möchte, wendet er / sie die für mich notwendige Art der Kommunikation nur für die ersten 3 oder 4 Sätze an. Dann ist er/sie gedanklich bei dem, was er/sie sagen möchte, beim Inhalt des Gespräches. Das Wie (langsam, deutlich, zugewandt, …) wird unabsichtlich vergessen. Er/sie fällt innerhalb einer Minute zurück in die normale Sprechweise. Das ist nicht böse gemeint, aber es passiert fast immer. Ausnahmen sind Menschen, die Übung im Umgang mit Hörbehinderten haben, z.B. eine schwerhörige Oma im Haushalt.
Der schwerhörigen Oma bin ich stets sehr sehr dankbar. Sie hat die „Sprecherziehung“ schon geleistet, die ich bei Familie, Freund:innen und Kolleg:innen sonst durch dauerndes Erinnern machen muss. Dabei bin ich sehr variantenreich: mal lege ich die Hand hinters Ohr, mal gucke ich verstört, … 😉

Sonja Mi-Ma

Aber es gibt doch Spracherkennung

Neuerdings machen mich Hörende auf verschiedene Programme und Apps aufmerksam, mit denen Sprache erkannt, verschriftlicht und / oder diktiert ´werden kann. Damit könne ich ja lesen, was gesagt wird; eine gut gemeinte Idee! Aber:

  • Ich schaue dann im Gespräch zum Lesen aufs Handy statt mein Gegenüber anzusehen. Es wirkt ein bisschen, als ignorierte ich mein Gegenüber. Zudem entgeht mir alles an Mimik und Körpersprache, was für die Kommunikation so wichtig ist.
  • Meine Erfahrung mit diesen Programmen: bei Menschen die deutlich sprechen, funktioniert das super (aber die kann ich ohne die Programme verstehen).
  • Bei Menschen die nuscheln, schnell oder Dialekt-gefärbt sprechen, einen Sprachfehler haben, … funktionieren die Programme nicht oder nur sehr eingeschränkt (es ist manchmal sehr lustig, was da „erkannt“ wird).
  • Zudem läuft die Spracherkennung systembedingt dem Gespräch immer zeitlich hinterher.

Es gibt Situationen, da kann eine Spracherkennung helfen, z.B. beim Besuch von Ämtern, Ärzten etc. die die Maske im Kontakt mit Hörgeschädigten NICHT absetzen, obwohl die Corona-Verfügungen aller Bundesländer dies regeln.
In Niedersachsen gilt:

„Auch Menschen, bei denen es aufgrund einer Behinderung durch eine Maske/Mund-Nasen-Bedeckung zu erheblichen Einschränkungen in der Kommunikation kommt (insbesondere bei hochgradig schwerhörigen und gehörlosen Menschen oder Menschen mit Sprachbehinderungen) müssen beim Einkaufen oder im ÖPNV nicht durchgängig eine Maske tragen. Bei der Kommunikation mit und von gehörlosen oder hochgradig schwerhörigen Menschen, kann in Gesprächssituationen die Maske abgenommen werden.“ https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/FAQ/alltagsmaskenpflicht-in-niedersachsen-antworten-auf-haufig-gestellte-fragen-187161.html (Stand: Januar 2021, letzter Aufruf 13.2.2022)

Sonja Mi-Ma

Coming out

„Schwerhörig? Aber ich bin doch erst 24? Ich fühle mich soooooo alt. Und eigentlich verstehe ich doch alles. Ich muss es ja nicht jedem auf die Nase binden, dass ich schwerhörig bin und jetzt ein Hörgerät trage.“ So dachte ich, bis folgendes passierte:
Wir zogen um, stellten uns bei den neuen Nachbarn vor und mit einem Studenten kam ich auch über Batterien und dass die immer im falschen Moment leer sind (bei ihm fürs Fotografieren, bei mir fürs Hören) ins Gespräch. Kurz darauf zog er weg. Nach etwa einem Jahr kam er für eine Stippvisite zurück und war bei Ex-Nachbarn zum Kaffeetrinken eingeladen. Auf seine Frage: „Wie sind denn die Neuen
(also wir)?“ bekam er zur Antwort: „Er ist ja ganz nett, aber SIE? Mal tut sie ganz freundlich und beim nächsten Mal antwortet sie nicht.“ Seit seiner Erklärung: „Mensch, die ist schwerhörig. Wenn sie nicht antwortet, dann hat sie dich einfach nicht gehört!“ sind wir mit den Nachbarn sehr gut befreundet.


Ich bin sehr froh, dass die Nachbarn mir diese Begebenheit geschildert haben. Das hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, meine Schwerhörigkeit mitzuteilen. Auch wenn ich nicht immer Lust habe, beim ersten privaten oder beruflichen Kontakt auf meine kaputten Ohren hinzuweisen; in der Schublade für Ignoranten, Hochnäsige und Kommunikationsmuffel möchte ich nie wieder landen.

Sonja Ma-Mi

„Und plötzlich klinkt sie sich aus dem Gespräch aus. Was hat sie denn?“

Das Hören mit kaputten Ohren lässt sich ein bisschen mit dem Lesen bei Dämmerung vergleichen. Bei guten Bedingungen wie große Buchstaben und schwarze Schrift auf weißem Papier (entsprechend einem guten Sprecher und ruhiger Umgebung) geht es noch ganz gut. Aber bei schlechten Bedingungen wird es schwierig bis unmöglich, z.B. bei kleinen Buchstaben und/oder grauer Schrift auf blauem Papier (nuschelige Aussprache und/oder Hintergrundgeräusche). Wenn Sie jetzt eine Lupe (ein Hörgerät) zu Hilfe nehmen, dann wird es etwas besser, aber vom Lesen bei Sonnenschein (Hören mit gesunden Ohren) sind Sie noch weit entfernt.
Und das Lesen bei Dämmerung ist anstrengend, irgendwann legen Sie das Buch zur Seite, weil die Konzentration nachlässt. Das liegt nicht daran, dass jetzt das Buch langweilig geworden ist. Genauso geht es Schwerhörigen, die irgendwann die Konzentration nicht mehr haben, um dem Gespräch zu folgen und sich dann zurückziehen. Das liegt nicht daran, dass jetzt die Gesprächspartner oder das Thema uninteressant geworden sind.

Sonja Ma-Mi

„Du hörst so gut zu!“

Ich bin schwerhörig, hochgradig schwerhörig. Und doch hat eine Kollegin genau das zu mir gesagt.
Ein Widerspruch?
Um zu verstehen, was mein Gegenüber sagt, nehme ich alle Sinne zu Hilfe, konzentriere mich ausschließlich auf das Gespräch, versuche mich in ihn oder sie auch einzufühlen. Wenn ich im Gespräch bin, bin ich ganz und gar im Gespräch. Die Gedanken sind ausschließlich beim Inhalt des Gespräches, beim Lesen von Mimik, Lippenbewegungen und Gestik, beim Erspüren dessen, was auf der nonverbalen Ebene vermittelt wird. Das kombiniere ich mit den Resten, die ich noch höre. Auf diese Weise und NUR auf diese Weise kann ich in ruhiger Umgebung gut verstehen. Verstehen ist also die einzige, die Haupttätigkeit. Ich mache und denke nichts Anderes nebenher. Ich bin ganz beim Gegenüber, das meine VOLLE Aufmerksamkeit genießt. Deshalb stimmt es: ich höre wirklich gut zu, gerade WEIL ich schwerhörig bin.

Sonja Ma-Mi